Erinnerungen an ein Weihnachtsfest ohne Zuhause

(Dezember 2016)

Erinnerungen an ein Weihnachtsfest ohne Zuhause (Dezember 2016)Eine Dame mit bewegtem Leben: Luise Rosenstock erwartet dieses Weihnachtsfest Besuch von ihren Enkeln. | © Foto: Katharina Engelhardt

Erinnerungen an ein Weihnachtsfest ohne Zuhause (Dezember 2016) Liebevolle Erinnerungen: Ludwig Bick zeigt ein Foto, auf dem er und seine drei Brüder zu sehen sind. | © Katharina Engelhardt

Zwei Bewohner aus dem Haus Phöbe erinnern sich an ganz alltägliche und bewegende Momente in den Jahren 1944/45 und an die Zeit danach.

Das Getöse da oben am Himmel, das vergisst er nie, sagt Ludwig Bick, wenn er an die Wintermonate der Jahre 1944 und 45 zurückdenkt. Immer wenn die Soldaten Angriffe auf Kassel flogen, donnerten sie so tief, "ganz ganz tief", über sein Heimatdorf Hörle bei Volkmarsen hinweg, dass es in Ludwig Bicks Ohren nur so dröhnte und rauschte. "Das war schlimm", sagt der heute 81-Jährige. Neun Jahre alt war er damals und er erinnert sich daran, dass "viel Schnee lag" und daran, dass es bitterkalt war im Warburger und im Waldecker Land. Eine kleine Landwirtschaft hatte seine Familie damals. Vier Kühe, einige Schweine und Gänse - kostbares Kapital der Familie in den schwierigen Zeiten, in denen nur über Lebensmittelmarken Essen zu bekommen war und selbst dann nicht immer und nicht ausreichend.

Abschied von Papa

Ludwig Bicks Vater war 1943 in den Kriegsdienst eingezogen worden. Der älteste Bruder Karl - und wie sehr den jungen Ludwig das damals schmerzte - musste sogar ein Jahr früher in den Krieg ziehen. Ludwig und seine Brüder: Vier Jungs waren sie und "immer eng miteinander", nicht nur in der Kindheit. Ludwig, Wilhelm, Fritz und eben Karl, der große Bruder.

Als der fortgehen musste, um an der Front in Russland als Soldat zu dienen, schrieb Ludwig jeden zweiten Tag an ihn. Auch an den Vater. Und je näher das Weihnachtsfest rückte, desto sehnsuchtsvoller wurden die Briefe der beiden erwartet. Eines Tages jedoch blieben die Lebenszeichen des großen Bruders aus. Die Mutter war in großer Sorge. Es kam kein Brief mehr an. "Wie groß war dann die Freude, als uns kurz vor Weihnachten Post erreichte mit der Nachricht, Karl sei im Lazarett. Verwundet zwar, aber sonst gehe es ihm gut", erinnert sich Ludwig Bick.

Kühe hüten mit "Prinz"

Die Familie stand bei den Bicks an erster Stelle. In den Kriegsjahren war die Mutter mit den drei jüngeren Söhnen zurückgeblieben. Ludwig Bick sorgte mit den beiden anderen Brüdern dafür, dass der Hof erhalten blieb. Sie pflegten und hegten das Land und die Tiere. "Ich musste jeden Tag die Kühe hüten", erinnert sich Ludwig Bick. Mit seinem tapferen Hund "Prinz" passte er auf, dass die Tiere der Straße nicht zu nahe kamen. Am Tag vor Weihnachten stand plötzlich ein Mann in Soldatenuniform auf eben dieser Straße - sein Vater! Er hatte für die Weihnachtstage kurzfristig Urlaub bekommen. "Das war das dickste Weihnachtsgeschenk, das wir uns nur vorstellen konnten", sagt Ludwig Bick. Ein Segen.

An Heiligabend geschah nicht allzu viel, außer dass die Familie gemeinsam aß. Es gab Schnitzel, Kartoffeln und als Nachspeise grünen Wackelpudding mit Vanillesoße. Was für ein Festessen! Und am Morgen des 25. rief der Vater zu den Jungs die Treppe hinauf "Kommt runter, das Christkind war da!", und die Brüder sausten nur so hinunter in die Stube. Da stand der Weihnachtsbaum mit erleuchteten Kerzen, eine Kostbarkeit. "Kerzen waren kaum noch zu bekommen in dieser Zeit. Wir sammelten immer die Stummel auf und steckten diese dann an den Baum. Und wir zündeten die Kerzen immer nur ganz kurz an, zur Bescherung etwa, damit sie etwas länger hielten", so Bick.

"Ja, die Bescherung", sagt er versonnen und schmunzelt. Geschenke, wie man sie sich zu Weihnachten vorstellt, die gab es natürlich nicht. "Unsere Mutter hat viel gestrickt und so gab es für uns solche Sachen wie Strümpfe oder Handschuhe." Sie wurden unter den Baum gelegt, unverpackt. "Für uns war es trotzdem ein großes Fest und aufregend", erinnert sich der 81-Jährige.

Auch wenn die Jungs wussten, dass es sicher kein Spielzeug gab, waren sie die ganze Nacht vorher wach, in freudiger Erwartung. Am nächsten Tag lieh Familie Bick den festlichen Weihnachtsbaum für den Gottesdienst aus - "wir wussten uns im Dorf schon zu helfen", sagt Ludwig Bick und lächelt.

Entbehrungsreiche Zeit

Zeiten der Entbehrung waren es für die Erwachsenen und besonders für die Kinder. Wenngleich sie es besser hatten als die Menschen in der Stadt, was die Lebensmittelversorgung betraf - besonders wegen der eigenen Tiere, die nach Bedarf geschlachtet werden durften. Aber auch sie hatten beileibe nicht alles. Schokolade und Süßigkeiten zum Beispiel gab es nicht. "Wir wussten gar nicht mehr, wie die überhaupt aussieht oder schmeckt." Vermisst haben sie sie trotzdem. Vollmilch-Nuss - ein unerreichbarer Traum von Ludwig Bick als Neunjähriger.

Liebevoller Blick zurück

Aber trotz allem, trotz des Getöses und des Dröhnens am Himmel: Wenn Ludwig Bick zurückblickt, trägt er überwiegend warme und liebevolle Erinnerungen mit sich aus dieser Zeit. Auch wenn er nie vergessen wird, wie tiefblutrot sich der Himmel gefärbt hatte, als die Flieger der Alliierten begonnen hatten, Kassel zu bombardieren - und die Stadt lichterloh brannte.

Nur wenige Dörfer weiter lebte die damals 17 Jahre junge Luise Rosenstock. Und doch sah ihr Leben und das ihrer Familie am Weihnachtsfest 46 ganz anders aus: Sie hatten kein Zuhause mehr. Im März 1945 marschierten die Amerikaner in Wethen ein. Zuvor musste der Ort massive Bombardierungen aushalten. Viele Häuser wurden nahezu vollständig zerstört. Allein in ihrer Straße brannten drei Häuser ab.

Es traf auch das Haus von Luises Familie. Doch unfassbar wurde die Geschichte, als sich diese Tragödie abspielte: Als die ältere Schwester (23) von Luise schreiend vor Entsetzen über das Feuer im Haus auf die Straße lief, wurde sie erschossen. Ein Trauma für die Familie, ein Ereignis, dessen Wucht und Schrecken Luise Rosenstock bis heute die Stimme versiegen lässt.

Im Haus der Rosenstocks hatte der Vater auch seine Werkstatt untergebracht, er war Schreiner und in der Vorweihnachtszeit reparierte er das Holzspielzeug vieler Kinder im Ort. "Einmal sind mein Vater und ich zur Christmette gegangen und brachten dem Pfarrer ein aus Holz gebasteltes Nähkästchen mit, was er als Geschenk bestellt hatte. Diese Nähkästchen waren bei allen beliebt, die gingen weg wie warme Semmeln."

Doch die Werkstatt des Vaters war nun auch zerstört. Zum Glück konnten die Rosenstocks bei Verwandten unterkommen, doch am Weihnachtsfest 46 litt Luise an Diphterie. Und ohnehin - ihr war nicht festlich zumute. "Ich werde aber nie vergessen, wie mir mein Cousin einen kleinen Tannenbaum ins Zimmer brachte - mit Lichtern und Wattebäuschchen geschmückt!" Auch für die Rosenstocks war die Familie der wichtigste Halt.

Dankbar für jeden Stein

Gemeinsam und mit vielen Helfern bauten sie das zerstörte Haus wieder auf. "Wir waren dankbar für jeden Stein, den wir bekommen konnten", erinnert sie sich. Und obgleich es viele Familien im Ort gab, die ihrerseits ihre Häuser wieder aufbauen wollten, erinnert sich Luise Rosenstock an so viel Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft. "Eine benachbarte Familie hatte ursprünglich geplant, ihr Haus aufzustocken. Doch als sie von unserer Situation erfahren hatten, schenkten sie uns einfach ihre Balken", sagt die heute 87-Jährige.

Die Anteilnahme und auch der Zusammenhalt im Ort waren groß. Wenn jemand gefallen war, litt das ganze Dorf mit, erinnert sich Luise Rosenstock. Die Männer aus ihrer Familie waren alle verschont geblieben. "Außer der Verlobte meiner Schwester. Er kehrte nicht aus Russland zurück."

Es brauchte viele Jahre nach dem Krieg, bis sich die Familie Rosenstock langsam ihren Alltag und ihr Weihnachtsfest zurückerobern konnte. Mit all den schönen Erinnerungen an die besinnliche Zeit, wie etwa an den berühmten Heringssalat von Mutter "Klärchen" oder gemeinsam gesungene Weihnachtslieder.

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